Local Energy Systems
»Wir müssen uns dringend auf den Weg machen, wenn die Energiewende gelingen soll«
Wenn Wohnquartiere oder Industriegebiete klimaneutral gestaltet werden, gibt es ganz unterschiedliche Wege, dieses Ziel zu erreichen – von der Gebäudesanierung über die effiziente Nutzung erneuerbarer Energien bis zur Transformation lokaler Infrastrukturen. Doch welcher dieser Wege ist der wirtschaftlich sinnvollste und garantiert gleichzeitig die Unterstützung der Stakeholder? Bei der Beantwortung dieser Frage unterstützen die Forschenden von Fraunhofer UMSICHT: Sie analysieren Voraussetzungen, Rahmenparameter und technologische Optionen und erarbeiten auf dieser Basis kundenspezifische Transformationspläne. Wie das in der Praxis aussieht, erläutern Sonja Witkowski und Carsten Beier im Interview.
Welche Herausforderungen seht ihr bei der Umstellung von Local Energy Systems auf erneuerbare Energien?
Sonja Witkowski: Erneuerbare Energiequellen haben vor allem im Stromsektor eine große Bedeutung. Wir müssen diese Quellen aber auch bei der Versorgung mit Heizwärme und Trinkwarmwasser berücksichtigen, weil da unbedingt dekarbonisiert werden muss. Allerdings: Strom- und Wärmesektor werden meist noch getrennt voneinander betrachtet – eine große Herausforderung auf dem Weg zur Energiewende. Wärme und Strom müssen als eine Einheit gesehen werden, aus der sich wirtschaftliche Vorteile und robuste Lösungen ergeben. Das müssen wir aufdecken, denn ohne Sektorenkopplung bleibt dieses Potenzial ungenutzt.
Carsten Beier: Und dabei müssen wir unbedingt in die Beschleunigung und in die Umsetzung kommen. Das entspricht auch dem, was sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz als Ziel gesetzt hat. Wichtig ist dabei aber, dass wir nicht alles isoliert betrachten. Dann haben wir an der einen Stelle vielleicht etwas gelöst, aber an der anderen Stelle ein Riesenproblem erzeugt. Sprich: Wir müssen integrale Lösungen entwickeln, Wärme, Strom, Mobilität und Infrastrukturmaßnahmen zusammendenken.
Warum ist das bislang noch nicht passiert?
Sonja Witkowski: Eine Herausforderung besteht in meinen Augen darin, dass ganz unterschiedliche Akteure und Stakeholder betroffen sind. Wenn ich beispielsweise ein Gebäude besitze, beziehe ich in der Regel Wärme und Strom von verschiedenen Anbietern. Es gibt keinen Zwang, aber meist auch keine Impulse, diese Dinge zu verknüpfen.
Carsten Beier: Erschwerend kommt hinzu: Betriebswirtschaft bildet die zukünftigen Probleme, die durch eine Sektorentrennung entstehen – wie eine Überlastung des Stromnetzes –, nicht ab. Deshalb bleiben viele passiv. Wir müssten jetzt investieren, auch wenn die teils massiven wirtschaftlichen Vorteile in der Zukunft liegen. Wir müssten jetzt Infrastrukturen ausbauen, aber das wird immer wieder ausgebremst – weil Investieren für den Moment unwirtschaftlich erscheint. Sicher: Als Unternehmen muss ich betriebswirtschaftlich arbeiten. Aber das, was auf unsere Gesellschaft an Herausforderungen zukommt, tritt nicht jetzt, sondern erst in der Zukunft auf. Dafür gibt es kein Preisschild, und deshalb kommen wir nichts ins Tun. Ein weiteres Problem ist die Komplexität von Local Energy Systems und den damit verbundenen Sektoren. Da ist es natürlich einfacher, sich nur eine Sache rauszupicken – auch wenn dadurch ökonomische und ökologische Potenziale verpasst werden.
Was muss passieren, damit sich da etwas ändert?
Carsten Beier: Die kommunale Wärmeplanung ist in meinen Augen schon ein Gamechanger. Da müssen mehrere Akteure zusammenkommen und auch zusammenarbeiten – von Kommune und Wohnungsbetrieb über Netzbetreiber und Stadtwerk bis zu Schornsteinfeger und Umweltverband. Und dabei werden garantiert viele To-dos und gemeinsame Lösungen aufgedeckt, aber auch Herausforderungen sichtbar. Beispiel Stromnetze. Mit denen haben wir nämlich ein massives Problem. Es gibt schon jetzt Regionen oder Quartiere, wo Wärmepumpen nicht so installiert werden können, wie wir das brauchen. Fast flächendeckend müssen Verteilnetze umgebaut werden.
Wie ließe sich diese Entwicklung, dieses Zusammenarbeiten über die Sektoren hinweg weiter forcieren?
Carsten Beier: Meiner Meinung nach ist das eine Aufgabe für den Gesetzgeber, der für schärfere Randbedingungen sorgen muss. Es geht nicht anders. Der Öffentlichkeit muss klar sein: Wir müssen uns dringend auf den Weg machen, wenn die Energiewende gelingen soll. Und dabei ist leider auch mit Einschränkungen zu rechnen – von höheren Energiekosten bis zur Umstellung von Gewohnheiten mit Blick auf Heizen und Mobilität.
Gleichzeitig sehe ich uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Pflicht. Wir müssen die Komplexität, von der ich bereits gesprochen habe, für die handelnden Akteure reduzieren. Dabei übernehmen wir die Rolle des Sparringspartners für unsere Kunden wie Wohnungsbaugesellschaften und -eigentümer, Stadtwerke sowie Betreiber von Industriestandorten mit hohen Energie- und Wärmebedarfen zum Beispiel Unternehmen in der Papier-, Lebensmittel-, Getränke- und Chemieindustrie. Wir erarbeiten kluge Lösungen und setzen diese gemeinsam um – genau hier liegt unser Schwerpunkt im Fokusthema Local Energy Systems.
Wie kann ich mir das vorstellen?
Sonja Witkowski: Wir unterstützen Quartiere und Industriestandorte dabei, ihre Energieversorgung auf erneuerbare Energien und CO2-arme Systeme umzustellen sowie ihre Energieeffizienz zu verbessern. Dabei schauen wir uns Erzeugung, Speicherung, Verteilung und Nutzung von Strom, Gas, Wärme, Kälte, Dampf und Druckluft an und entwickeln integrale Konzepte für die erfolgreiche Umsetzung.
Das lässt sich vermutlich am besten an einem Beispiel verdeutlichen: Im Projekt »Future-iQ« werden in Bestandswohnquartieren der LEG Immobilien SE neue Strom- und Wärmeversorgungskonzepte umgesetzt und getestet – mit der Zielsetzung, schnell und sozialverträglich CO2-Emissionen zu reduzieren. Dabei werden u.a. ein Nahwärmenetz, aber auch Photovoltaikanlagen gebaut. Wir beleuchten anhand von Modelluntersuchungen konkrete Fragestellungen, die im Projekt aufkommen: Soll der gewonnene Strom beispielsweise nur für die Wärmepumpe in der Energiezentrale oder kann er auch für Mieter*innenstrom genutzt werden? Wie groß sollte der Anteil der Mietenden mindestens sein, die am Mieter*innenstrom teilnehmen? Wie viele Photovoltaikanlagen brauchen wir, wenn sich doch mehr Mieter*innen entscheiden, den Strom zu nutzen? Diese Fragen beantworten wir für unterschiedliche Szenarien wie variierende Abgaben oder Strompreise und bieten dadurch die so dringend benötigten Entscheidungsgrundlagen.
In diesen Untersuchungen betrachten wir ergänzend auch immer die Ist-Variante. Also was passiert, wenn wir gar nichts ändern? Wenn wir z.B. beim Gaskessel bleiben und nicht auf Wärmepumpen oder Wärmenetze setzen? Dabei kommen dann in der Regel die schlechtesten Key Performance Indicators heraus, was häufig zu einem Aha-Moment bei unseren Kunden führt.
Carsten Beier: Dieses modellbasierte Vorgehen kann man sich im Grunde wie ein Technikum oder ein Labor vorstellen. Bevor ich als Unternehmen mit einem neuen Verfahren in die Großproduktion gehe, lass ich in Labor oder Technikum mehrmals testen, ob das überhaupt funktioniert, und nehme die für meine Parameter beste Variante. So ist das mit unseren Modellen auch. Wir machen in unserer digitalen Labor- und Technikumsinfrastruktur einen Versuch und schauen: Was passiert da eigentlich? Dabei schließen wir Risikobehaftetes aus und empfehlen die Variante, die sowohl die höchste Wahrscheinlichkeit als auch die größte Robustheit hat.
Es geht also in Summe darum, Möglichkeiten aufzuzeigen…
Carsten Beier: …und sie bewertbar zu machen. Unsere Auftraggeber sollen ein Gefühl dafür bekommen, welche Auswirkungen und Konsequenzen einzelne Varianten haben, um dann die für sie richtige Investitionsentscheidung zu treffen und Planungssicherheit zu bekommen.
Und diese Konzepte sind für jeden Auftraggeber individuell oder gibt es übergeordnete Empfehlungen?
Carsten Beier: Es gibt natürlich ein paar allgemeingültige Grundvoraussetzungen: dass wir Elektrifizieren müssen, dass wir massiv Wärmepumpen brauchen, dass wir sanieren müssen, dass wir Fernwärmeanschlüsse verdreifachen müssen, dass wir Wasserstoff für die Großindustrie und als saisonalen Speicher brauchen. Diese Grundvoraussetzungen müssen dann auf das Lokale heruntergebrochen werden: Wie sind die Rahmenbedingungen am jeweiligen Standort? Besteht die Möglichkeit, an Wasserstoff zu kommen? Lässt sich auf Wind- oder Sonnenenergie setzen? Und dann geht es natürlich um die individuellen Daten und die Zielsetzung des Auftraggebers, die ebenfalls in unsere Modelle einfließen: Um was für Gebäude geht es? Wie sind die bisherigen Strom- und Heizbedarfe? Wie viel Platz steht für Anlagen zur Verfügung? Gibt es konkrete Vorstellungen, was geht und was nicht geht?
Wie kommt ihr an diese Daten?
Carsten Beier: In der Regel über klassische Fragebögen. Je nach Projektzuschnitt setzen wir aber durchaus auch auf Workshops oder andere Austauschformate. Bei einem Projekt in Niederkrüchten berücksichtigen wir beispielsweise die Bedürfnisse der Kommune, des Windparks, des Gewerbegebiets sowie der Bürgerinnen und Bürger. Da sitzen dann – moderiert von der Stadt – alle an einem Tisch und geben Feedback. Unsere Aufgabe ist es dann, Lösungen zu erarbeiten, die für alle Beteiligten Vorteile bieten. Auch das ist eine Form der Wissenschaftsarbeit.
Ist diese Einbindung von Akteuren Bestandteil eures Kompetenzportfolios?
Carsten Beier: Auf jeden Fall. Die Kombination von Technik- und Akteurssicht ist im Wissenschaftsumfeld sogar eines unser Alleinstellungsmerkmale.
Sonja Witkowski: Die unterschiedlichen Akteure spielen in den meisten unserer Projekte eine Rolle – und das auf ganz unterschiedlichen Flughöhen. Beispielsweise haben wir ein Projekt mit einer 27-köpfigen Gemeinschaft von Eigentümerinnen und Eigentümern durchgeführt. Da ging es um ein Bestandsquartier von 2010 mit eigenem Blockheizkraftwerk, Wärme- und Stromnetz. Die wollten wissen, wie es weitergehen kann, wenn das BHKW in die Jahre kommt. Also haben wir in einem Workshop erstmal geklärt: Was sind denn eure Erwartungen? Was stellt ihr euch vor? Wir haben erklärt, was Wärmepumpen überhaupt sind, und aufgezeigt, was mögliche Lösungen sind – erstmal ganz ohne Berechnungen. Dann haben wir auf Basis der Rückmeldungen drei/vier Konzepte ausgearbeitet und auch durchgerechnet, so dass die Gemeinschaft anhand von konkreten KPIs ihre Investitionsentscheidung treffen kann.
Wenn sich ein Auftraggeber für eine Variante entschieden hat und der dazugehörige Transformationsplan steht, wie geht es dann weiter?
Sonja Witkowski: Fällt der Auftraggeber eine Entscheidung für eine Variante, wird in der Regel ein Planungsbüro mit der Realisierung beauftragt – also zum Beispiel dem Bau der Anlagen. Wenn gewünscht können wir auch in dieser Phase dabeibleiben und sowohl die Umsetzung als auch den Betrieb beratend begleiten. Das kann z.B. sinnvoll sein, wenn das Planungsbüro aus Kostengründen Änderungen an unserem Konzept vornehmen möchte, die eine Zielerreichung gefährden würden. Oder wenn sich Rahmenbedingungen ändern und die Betriebsweise oder einzelne Komponenten angepasst werden müssen. Durch diese Begleitung können auch Erfolge aufgezeigt und auf andere Standorte übertragen werden. Dann sind die wirtschaftlichen Effekte durch unsere wissenschaftliche Arbeit besonders groß – und wir kommen endlich ins Tun.