»Dank der Simulationen können wir einen technisch möglichen Rahmen definieren«
Zurzeit läuft die zweite Phase des Verbundprojekts Carbon2Chem®, in der u. a. die großtechnische Umsetzung einer nachhaltigen Methanolproduktion auf Basis von Hüttengasen validiert werden soll. Was sind die nächsten Schritte? Welche Bedeutung hat das Thema Simulation für den realen Anlagenbetrieb? Tim Schulzke und Dr.-Ing. Stefan Schlüter im Interview.
Geben Sie uns doch bitte zunächst einen kurzen Überblick: Welches Ziel verfolgt das Verbundprojekt Carbon2Chem®?
Stefan Schlüter: Kernziel des 2016 gestarteten Projekts ist, die Stahlproduktion bei thyssenkrupp grüner zu gestalten. Dazu wird das bei der Stahlproduktion anfallende Kohlenmonoxid und Kohlendioxid einer chemischen Verwertung zugeführt. Konkret geht es um die Produktpfade Methanol, höhere Alkohole, Ammoniak und Polymere. Carbon2Chem® soll einen großen Anteil des jährlichen deutschen Kohlendioxid-Ausstoßes der Stahlbranche wirtschaftlich nutzbar machen. Der Ansatz ist eine Art Brücke auf dem Weg hin zu echtem grünen Stahl, für dessen Herstellung perspektivisch nachhaltiger Wasserstoff anstatt Kokskohle verwendet wird.
Das Fraunhofer UMSICHT ist sehr erfahren in der Methanolsynthese und bringt seine Kompetenzen entsprechend ein.
Tim Schulzke: Das ist richtig. Wir beschäftigen uns am Institut schon relativ lange mit der Synthesegaschemie, konkret mit der Herstellung von Methanol und Dimethylether aus Synthesegasen. Das Fraunhofer UMSICHT verfügt über mehrere Versuchsanlagen in unterschiedlichen Größen und mit verschiedenen Untersuchungsschwerpunkten, die wir im Rahmen von Carbon2Chem® einsetzen.
Was unterscheidet die einzelnen Anlagen konkret?
Tim Schulzke: An der kleinsten Versuchsanlage wird das Katalysatorverhalten getestet. Mit welchen Gaszusammensetzungen liefert ein Katalysator vernünftige Produktmengen und Produktqualitäten? Bei welchen Bedingungen gibt es mehr, bei welchen weniger Nebenprodukte? So erhalten wir detaillierte Informationen über die Funktion der Gasreinigung im Hüttenwerk. Die zweite Versuchsanlage ist etwas größer dimensioniert und dient der Untersuchung des Reaktorverhaltens. Wir messen die Temperaturführung, den Druck und das Temperaturprofil im Reaktor. Schließlich haben wir die Demonstrationsanlage im Containerformat. Hier betrachten wir das Anlagenverhalten, also das Zusammenspiel von Katalysator, Reaktor, Abtrennung des flüssigen Produkts und Kreisgasführung. So erkennen wir z. B. negative Effekte durch das Anreichern von Spurengasen, die im Single-Pass-Betrieb der kleineren Versuchsanlagen nicht zu beobachten sind. Wir untersuchen diese Zusammenhänge zunächst mit Flaschengasen, später mit Realgasen aus dem Hüttenbetrieb.
Wie funktioniert die Kreisgasführung in der Demonstrationsanlage?
Tim Schulzke: Am Anfang tritt das sogenannte Make-up-Gas in die Anlage und wird durch den Reaktor geführt. Wird das Gas am Ende abgekühlt, kondensieren Methanol und Wasserdampf und können vom restlichen Gas abgetrennt werden. Das Ergebnis ist Methanol mit etwas Wasser. Das Make-up-Gas kann aus thermodynamischen Gründen in der Reaktion jedoch nur teilweise umgesetzt werden, sodass noch eine gewisse Menge an Wasserstoff mit ein wenig Kohlenmonoxid und Kohlendioxid übrigbleibt. Diese werden als Recycle-Gas rückgeführt und dem Make-up-Gas beigemischt, und das dabei entstandene Feed-Gas geht wieder in den Reaktor. Die Mischungsverhältnisse sind so, dass stets etwas mehr Wasserstoff vorhanden ist als für die Reaktion benötigt wird. Das führt dazu, dass die Wasserstoffkonzentration im rückgeführten Gas sehr hoch ist – was wiederum zu einem hohen Umsatz des Kohlenstoffs führt. Der überschüssige Wasserstoff und inerte Bestandteile werden über das sogenannte Purge-Gas an die Umgebung abgegeben, um einen Druckanstieg zu vermeiden. Verwendet man für die Reaktion ein Gasgemisch nur mit Wasserstoff und Kohlenstoffträgern, ist der Purge-Gas-Volumenstrom relativ klein. Bei Hochofengas hingegen ist er deutlich größer, da hier das Make-up-Gas bis zu 22 Prozent Stickstoff enthält, der wieder abgegeben werden muss.
Das Fraunhofer UMSICHT beschäftigt sich neben den Praxisversuchen auch mit dem Thema Simulation.
Stefan Schlüter: Wir simulieren den gesamten Verbund. Hierzu zählen die Hüttengasreinigungsstufen, die Kompressoren, die eigentliche Methanolanlage und weitere technische Anlagen wie z. B. Abscheider. Im Prinzip alles, was dazugehört, um ein verkaufsfähiges Produkt zu erzeugen. Dabei arbeiten wir zweigleisig: Mit detaillierten Modellen für den Methanolprozess werden die bisherigen Praxisexperimente nachgerechnet. Vereinfachte Modelle, die auf einfacheren Annahmen basieren, werden dann mit diesen errechneten Daten parametriert. Die vereinfachten Modelle sind für die Gesamtsimulation notwendig, in der wir alle notwendigen Einheiten gleichzeitig über einen längeren Zeitraum – z. B. ein Produktionsjahr – simulieren. Wir müssen mit den Rechenzeiten in einem Bereich liegen, der für uns noch handhabbar ist. Unser Ziel ist, dass eine Simulation des gesamten Prozesses über ein Jahr etwa einen Tag beansprucht.
Tim Schulzke: Dank der Simulationen können wir einen technisch möglichen Rahmen definieren. Während in der Praxis der Physik Grenzen gesetzt sind, sind wir in der Simulation verhältnismäßig frei etwa hinsichtlich maximaler Drücke, Temperaturen oder Durchflussmengen. Und wir können wesentlich mehr Punkte darstellen als in einer begrenzten Versuchszeit möglich wäre.
Welche Hauptparameter beeinflussen die Simulation?
Stefan Schlüter: Ein Hauptparameter sind die Gaszusammensetzungen, genauer welche Art von Hüttengasen verwendet werden: Hochofengas oder Konvertergas? Aktuell verwenden wir hauptsächlich Hochofengas, da es am Standort voraussichtlich noch längere Zeit zur Verfügung stehen wird. Es stellt sich die Frage, wie die Reinigung funktioniert. Das können wir nicht ausreichend genau simulieren und sind daher auf die Ergebnisse der Laborversuche angewiesen. Zentral ist auch der Aufbau des eigentlichen Methanolprozesses. Hier gibt es eine Reihe von Stellgrößen, die man auch in klassischen Methanolanlagen nutzt, um den Umsatz zu optimieren. Da die Hüttengasströme und auch die Gaszusammensetzung nicht konstant sind, sind unsere Modelle so aufgebaut, dass sie mit schwankender Fahrweise umgehen können. Eine Arbeitsgruppe am Fraunhofer UMSICHT betrachtet den gesamten Prozess über einen längeren Zeitraum mit dem Fokus auf ökonomische Aspekte. Wann macht es z. B. Sinn, die Methanolanlage stärker auszulasten, weil etwa gerade der Strom für die Herstellung von Wasserstoff günstig ist oder Methanol teurer verkauft werden kann?
Wie werden die Ergebnisse aus den Simulationen verifiziert?
Stefan Schlüter: Wir vergleichen unsere Simulationen zum einen mit anderen Rechnungen und mit Daten, die uns vom Hüttenwerk und von den am Projekt beteiligten Arbeitsgruppen bei thyssenkrupp zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen haben wir die Möglichkeit des Vergleichs mit den Technikumsversuchen.
Im ersten Halbjahr 2022 soll die Demonstrationsanlage vom Fraunhofer UMSICHT in Oberhausen nach Duisburg ins Hüttenwerk überführt werden. Gibt es darüber hinaus schon weitere Planungen?
Stefan Schlüter: In der nächsten Phase testen wir die Methanolherstellung im Technikum auf dem Hüttenwerk mit Realgasen. Zum Ende der Projektlaufzeit in 2024 soll dann jeweils ein Prozess für Methanol und einer für Ammoniak/Harnstoff im Detail soweit ausgearbeitet sein, dass im Anschluss direkt technische Demonstrationsanlagen gebaut werden können. Nach aktuellem Stand sind wir guter Dinge, dass wir dieses Ziel erreichen können.
Können die zunächst für ein Hüttenwerk erarbeiteten Prozesse auch auf andere Industriezweige adaptiert werden?
Tim Schulzke: Alternative Kohlenstoffquellen sind Bestandteil eines Leuchtturmprojekts im Rahmen von Carbon2Chem®, und es gibt bereits zwei exponierte Partner. Das ist zum einen die GMVA Gemeinschafts-Müll-Verbrennungsanlage Niederrhein GmbH als Teil der REMONDIS Assets & Services GmbH & Co. KG, bei der das Rauchgas aus der Müllverbrennung gereinigt wird und man dadurch Kohlendioxid für die Methanolsynthese und die Herstellung weiterer Produkte erhält. Zum anderen gibt es den Kalkbrenner Lhoist Germany Rheinkalk GmbH. Hierzu ist zu sagen, dass Kohlendioxid in diesem Fall prozessimmanent ist, d. h. man kann es nicht vermeiden. Es entsteht zwangsläufig bei der Umwandlung von Kalkstein (Calciumcarbonat) durch Wärme in gebrannten Kalk (Calciumoxid). Das nächste Ziel ist daher, das Kohlendioxid aus den Kalköfen chemisch mit Elektrolysewasserstoff als Methanol zu binden und dieses z. B. als E-Fuel oder Chemierohstoff einzusetzen.
Tim Schulzke (Abteilung Low Carbon Technologies)
... passt die vorhandene Demonstrationsanlage an die örtlichen Bedingungen am Standort im Hüttenwerk an. Des Weiteren führt er Versuchskampagnen zur Gewinnung von Datengrundlagen und zum Austesten der Einsatzgrenzen durch.
Stefan Schlüter (Abteilung Low Carbon Technologies)
... ist für die Simulation des Gesamtverbundes mit Hilfe mathematischer Methoden und entsprechend entwickelter Programme zuständig.