»Nachhaltigkeit ist ein starkes Thema, das Märkte verändert«
Die Bundesregierung hat ihre Nachhaltigkeitsstrategie überarbeitet. Eine wichtige Weichenstellung für die Politik, sagen die einen. Folgenlose Absichtsbekundung, meinen die anderen. Wir haben zwei UMSICHT-Experten um ihre Einschätzung gebeten: Markus Hiebel, Nachhaltigkeitsbeauftragter des Instituts und Leiter der Abteilung Nachhaltigkeit und Partizipation sowie Hartmut Pflaum, Leiter der Geschäftsstelle des Fraunhofer Cluster of Excellence Circular Plastics Economy CCPE und verantwortlich für Strategie und Innovation.
Zu Beginn ein kurzes Stimmungsbild: Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser Überarbeitung ein?
Hartmut Pflaum: Sehr wichtig und gut ist, dass überhaupt eine Überarbeitung stattgefunden hat. Die vorhergehende Version der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie war die erste, die sich an den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen orientiert hat. Allerdings hat man es sich damals für meine Begriffe etwas einfach gemacht. Und zwar indem man versucht hat, bereits existierende Indikatoren in das Gerüst der SDGs zu fassen. Die aktuelle Bearbeitung geht einen Schritt weiter: Die Nachhaltigkeitsziele sind wirklich ins Zentrum gerückt, und auch alle Indikatoren sind an ihnen ausgerichtet.
Markus Hiebel: Die Nachhaltigkeitsstrategie kann als Kompass für Gesellschaft und Wirtschaft dienen. Sie macht die übergreifenden Ziele messbar und hilft, diese zu überwachen. Treten Abweichungen auf, können entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Zudem finden Updates statt, in deren Rahmen Indikatoren erweitert oder neu aufgenommen werden. Dazu gehörten z. B. die Punkte Frauen in Führungspositionen im öffentlichen Dienst des Bundes, Breitbandausbau oder der weltweite Bodenschutz.
Gibt es Punkte, die aus Ihrer Sicht intensiver hätten behandelt werden müssen?
Hartmut Pflaum: Hier am Institut haben wir uns im Rahmen unserer Strategie UMSICHT.2025 sehr intensiv mit dem SDG 12 »Nachhaltige/r Konsum und Produktion« auseinandergesetzt. Das taucht natürlich auch in der Nachhaltigkeitsstrategie auf. Aber ich finde, man ist hinter dem zurückgeblieben, was möglich gewesen wäre. Der Punkt »weniger Umweltverbrauch bei der Nutzung von Konsumgütern« hätte meiner Ansicht nach ambitionierter geraten können. Da wäre es lohnenswert gewesen, tiefer reinzugehen. Gerade weil wir wissen, dass viele Umweltwirkungen am Konsum hängen.
Markus Hiebel: Was mir fehlt, ist der Querschnittsbereich Digitalisierung. Natürlich sind damit auch negative Aspekte wie steigender Energieverbrauch oder Elektroschrott verbunden. Aber richtig eingesetzt, kann Digitalisierung zur Realisierung der Nachhaltigkeitsziele beitragen – sei es mit Blick auf die Erfassung von Gesundheitsdaten, das Einsparen von Düngemitteln durch Precision Farming oder auch das Monitoring von Biodiversität mittels Satelliten. Einige Forschende schlagen die Digitalisierung als ein zentrales Mittel vor, um die nötige Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu befördern und um die die SDGs zu erreichen.
Mit der Überarbeitung der Nachhaltigkeitsstrategie sind sechs Transformationsbereiche eingeführt worden: (1) Energiewende und Klimaschutz, (2) Kreislaufwirtschaft, (3) nachhaltiges Bauen und Verkehrswende, (4) nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, (5) schadstofffreie Umwelt sowie (6) menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Hartmut Pflaum: Endlich taucht der Begriff Transformation auf. Die Wissenschaft befasst sich damit schon länger – hier seien zum Beispiel die Kolleg*innen des Wuppertal Instituts erwähnt. Im Ruhrgebiet kennen wir das unter dem Label Strukturwandel und gemeint ist damit die Wandlung von einem – regionalwirtschaftlichen – Status in einen anderen mit möglichst höherer Qualität. Und solche Transformationen durchlaufen wir aktuell in ganz vielen Bereichen. Das ist nicht nur der Kohleausstieg, den wir in Deutschland vor der Brust haben, sondern eben auch die Entwicklung von einer linearen zu einer Kreislaufwirtschaft.
Wichtig ist: Dabei geht es nicht darum, eine Art Schalter umzulegen. Ganz im Gegenteil. Eine Transformation ist ein langwieriger Prozess, bei dem gut überlegt sein will: Wie kann der Weg aussehen? Und wer muss mitgenommen werden? Wenn dieser Veränderungsprozess erfolgreich sein soll, müssen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen.
Picken wir uns die Wissenschaft raus, die in der überarbeiteten Strategie ja auch deutlich in den Vordergrund gerückt worden ist. Welche Rolle könnte und sollte das Fraunhofer UMSICHT auf dem Weg zu einer nachhaltigen Welt spielen?
Markus Hiebel: Da fällt mir direkt das Lernmodul Circular Economy ein, das wir für die Fernuniversität in Hagen geschrieben haben. Das haben bislang schon fast 100 Studierende durchgearbeitet. Ein anderes Beispiel ist ein Vortrag, den ich zusammen mit einer UMSICHT-Kollegin an der Volkshochschule Oberhausen gehalten habe. Zielsetzung: der Bürgerschaft die Nachhaltigkeitsziele näherzubringen. Solche Sachen können wir im Kleinen machen. Darüber hinaus klären wir natürlich auch im Rahmen unserer Publikationen und unseres eigenen Nachhaltigkeitsberichts über die Thematik auf. Hier haben wir eingeordnet, welche Beiträge ausgewählte FuE-Projekte zu den SDGs leisten. Man kann also sagen, dass die Unternehmensstrategie bei Fraunhofer UMSICHT mit der Nachhaltigkeitsstrategie verschmolzen ist.
Hartmut Pflaum: Das würde ich noch ergänzen. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist mit dem Programm »Forschung für die Nachhaltigkeit« (FONA) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verknüpft. Das läuft seit 2005, wird regelmäßig wieder neu aufgelegt und adressiert Schwerpunkte, auf die wir uns als Forschende mit unseren Projekten bewerben. Bereits finanziert werden beispielsweise das Verbundprojekt Carbon2Chem®, bei dem es um eine klimaneutrale Gestaltung der Stahlindustrie geht. Oder auch ODH@Bochum-Weitmar, in dessen Rahmen eine energieeffiziente und CO2-minimierte Strom- und Wärmeversorgung für ein Stadtquartier entsteht.
Und ein zweiter Punkt: Wir haben im vergangenen Jahr gezeigt, dass wir uns auch mit systemischen Fragestellungen beschäftigen. Konkret haben wir im Projekt Souveräne Wertschöpfungszyklen beleuchtet: Wie versorgt sich eigentlich ein Industrieland wie Deutschland mit Ressourcen? Und welche Handlungsoptionen hat es, wenn es Dinge produzieren bzw. nach bestimmten Lieferketten auswählen möchte? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen dürfen wir 2021 fortsetzen. Bislang sind daraus Ideen entstanden, die zum Beispiel in Richtung »responsible engineering« oder auch »sustainable engineering« gehen. Zugleich sind das Dinge – und hier schließt sich der Kreis zu dem, was Markus Hiebel gesagt hat – die über unsere enge Zusammenarbeit zum Beispiel mit der Ruhr-Universität Bochum auch in akademische Diskussionen einfließen. Das führt dann dazu, dass sich ganz traditionelle Lehrstühle wie Maschinenbau allmählich mit Nachhaltigkeit beschäftigen. Ein guter Beitrag also, den gerade die angewandte Forschung an der Schnittstelle zur Grundlagenforschung an den Universitäten leisten kann.
Gibt es auch Nachhaltigkeitsziele, zu deren Erreichung das Fraunhofer UMSICHT ganz konkret beitragen kann? Vielleicht gerade mit Blick auf die Realisierung einer Circular Economy? Prof. Dr. Christa Liedtke, Co-Vorsitzende der Wissenschaftsplattform 2030, kritisierte in ihrer Stellungnahme zur Strategie beispielsweise, dass aktuell nur 12 Prozent der wiederverwerteten Verpackungsmaterialien in den Kreislauf zurückkehren.
Hartmut Pflaum: Das ist eine Diskrepanz, die man immer wieder erläutern muss. Bei Verpackungsstoffen haben wir eine Recyclingquote von 46 Prozent. Aber die »Circular Material Use Rate«, also das, was dann tatsächlich in einem Neuprodukt wieder genutzt wird, liegt bei 10 bis 12 oder noch weniger Prozent. Da scheint irgendwas falsch zu laufen. Wir schaffen es offensichtlich nicht, die Qualität so hinzubekommen, dass sie lebensmitteltauglich ist oder dass höhere Anteile auch im Verpackungsbereich wieder eingesetzt werden können. Und das betrifft im Grunde nicht nur Verpackung, sondern jedes Kunststoffbauteil. Genau daran forschen wir beim Fraunhofer Cluster of Excellence Circular Plastics Economy CCPE. Wir arbeiten u.a. an Materialien, die leichter recyclierbar sind. Wir denken auch darüber nach, wie wir Kunststoffe biobasiert und/oder bioabbaubar machen können. Damit sie, wenn sie dann doch in der Umwelt landen sollten, dort schnell wieder verschwinden.
Markus Hiebel: Da ist natürlich auch der Gesetzgeber mit entsprechenden Instrumenten gefragt. Ein konkretes Beispiel: PET-Flaschen müssen bis 2025 25 Prozent und bis 2030 30 Prozent recycliertes Material enthalten. Durch solche Entwicklungen wird es für Unternehmen interessant, in diesem Bereich aktiv zu werden, da sie Investitionssicherheit bekommen. Ein anderes Beispiel ist die Förderung der grünen Beschaffung, um Nachfrage zu generieren.
Wie sind denn Ihre Erfahrungen: Sind mittlerweile mehr Unternehmen bereit, sich entsprechend aufzustellen und ihre Prozesse zirkulär zu gestalten?
Markus Hiebel: Auf jeden Fall. Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die in diesem Bereich aktiv sind und Berührungspunkte zum Fraunhofer UMSICHT hatten oder haben. Für die Firma Henkel haben wir z. B. ein Software-Tool zur Bewertung der Recyclingfähigkeit von Verpackungen geprüft. Für Interseroh/ALBA berechnen wir bereits seit 2007 Ressourceneinsparungen oder den Beitrag, den Geschäftsmodelle wie das Refurbishment von Tonerkartuschen leisten können. Für ALDI SÜD haben wir die Umweltfreundlichkeit von Mehrweg-Transportverpackungen geprüft. Zudem landen bei uns sehr viele Anfragen aus dem Kunststoff- und Verpackungsbereich von Kunden, die wissen möchten, welche Produkte umweltfreundlicher und zirkulärer sind. Dies fließt dann häufig in die entsprechenden Unternehmensstrategien ein. Denn vielen ist wichtig, solche Prozesse oder Überlegungen für Kund*innen auszuflaggen, die inzwischen auch explizit nach Informationen dazu fragen.
Hartmut Pflaum: Auch im Cluster haben wir verstärkte Nachfragen von Unternehmen registriert. Bei mir ist beispielsweise ein Hersteller von Haushaltsgeräten gelandet, der seine Prozesse zirkulär gestalten möchten: Das Unternehmen konstruiert in Deutschland, produziert in asiatischen Ländern und liefert dann weltweit aus. Da ist jetzt die Frage: Wie lässt sich eine Zirkularität – zum Beispiel material- oder konstruktionstechnisch – realisieren? Die Motivation dahinter ist nicht nur der aktuelle Trend, Materialien zurückzugewinnen. Vielen Unternehmen ist auch bewusst, dass es günstiger sein kann, sich nachhaltig aufzustellen, wenn man das clever und intelligent macht. Man sieht also: Nachhaltigkeit ist ein starkes Thema, das sowohl Märkte als auch Nachfragen verändert.