10 Jahre inFARMING®
Große Chance für die urbane Agrarproduktion
Der Anbau in oder auf Gebäuden in Ballungszentren bietet eine ressourcenschonende und flächeneffiziente Form der Agrarproduktion. Unter der Dachmarke inFARMING® entstehen am Fraunhofer UMSICHT seit mittlerweile 10 Jahren innovative Technologien und Materialien, die die Basis für regionale und qualitativ hochwertige pflanzliche Produkte sind. Das Potenzial ist enorm, weiß Volkmar Keuter, Abteilungsleiter Umwelt und Ressourcennutzung, mit Blick auf das bisher Erreichte und die nächsten Schritte.
Warum werden moderne Anbautechniken immer wichtiger für die Agrarwirtschaft?
Volkmar Keuter: Moderne Kultivierungstechniken findet man häufig in geschützten Anbauformen – etwa bei der Kultivierung im Gewächshaus oder in modernen Indoor-Farmen, der sogenannten Controlled Environment Agriculture (CEA). Hier können Pflanzen unter idealen, auf sie zugeschnittenen Bedingungen produziert werden. Gerade vor dem Hintergrund der Hitzemonate in den Jahren 2017 bis 2020, in denen sehr stark bewässert werden musste, stellt sich die Frage, ob Kultivierung auf dem freien Feld auf Dauer noch wirtschaftlich und zukunftsfähig ist. Je aufwendiger die bisherige Kultivierung wird und Erträge gefährdet sind, desto mehr gewinnen moderne Anbautechniken an Bedeutung.
Ein weiterer Vorteil des geschützten Anbaus in hydroponischen oder auch aeroponischen Systemen ist, dass ohne schädliche Emissionen produziert werden kann. Nehmen wir beispielsweise die Nitratproblematik im Trinkwasser: Diese ist infolge von Überdüngungen auf die Landwirtschaft zurückzuführen. Die alternativen Kultivierungsmethoden haben den Vorteil, dass nahezu die gesamte Nährstoffflüssigkeit im Kreislauf geführt werden kann.
Vor 10 Jahren wurde die Entwicklungsplattform inFARMING® am Fraunhofer UMSICHT ins Leben gerufen. Was steckt hinter der Idee?
Volkmar Keuter: inFARMING® steht für integrierte Agrarwirtschaft. Dahinter steckt der Gedanke, vorhandene Gebäude- und Quartierstypen zu nutzen, um auf oder in Gebäuden Pflanzen zu kultivieren. Ursprünglich stand dahinter eine Idee aus den USA, auf die wir vor rund 12 Jahren aufmerksam wurden. Damals testete das Unternehmen BrightFarms aus New York Gewächshausinstallationen auf Hochhäusern. Seitdem entwickeln wir zusammen mit Simone Krause, Gruppenleiterin Urbane Transformation, und Holger Wack, stellv. Abteilungsleiter Produktentwicklung, das Themenfeld weiter. Unsere Arbeit ergänzt sich ideal, indem wir die ingenieurtechnischen Entwicklungen mit der Geschäftsmodellentwicklung und der akteurszentrierten Gestaltung zusammenbringen.
Zu Beginn stand die Frage, ob sich derartige Systeme auf Deutschland und Europa übertragen lassen und wie das Fraunhofer UMSICHT dabei als Technologieentwickler fungieren kann. Es folgte ein Strategieprozess, in dessen Rahmen die Entwicklungsplattform inFARMING® entstand.
Was sind die Vorteile gegenüber der bisherigen Anbaupraxis?
Volkmar Keuter: Im Vordergrund von inFARMING® steht eine effiziente, bestenfalls kreislaufbasierte Pflanzenproduktion am Ort des Bedarfs. Die modernen Kultivierungstechniken können dabei nicht nur für Salate oder Kräuter, sondern auch für Pflanzen mit einer höheren Wertschöpfung, beispielsweise Heil- und Medizinalpflanzen oder Aromapflanzen, in der Industrie Verwendung finden. Dabei könnte man nicht nur im urbanen Raum, sondern auch am Ort der Weiterverarbeitung kultivieren. Auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Städten sind derartig kultivierte Nahrungsmittel sehr interessant, da die Produkte frischer sind, bei gleichzeitig höherer Qualität. Es lassen sich zudem auch alte Sorten kultivieren, die nur noch selten in den Supermarktregalen zu finden sind. Gleichzeitig werden die Emissionen durch den Transport drastisch reduziert.
Wir konnten in der Vergangenheit bereits zeigen, dass auch Pflanzen, von denen man es nicht erwartet, hydroponisch kultivierbar sind. Die Erträge waren dabei im Vergleich zum Feldanbau sogar deutlich höher. Bei diesen Machbarkeitsstudien arbeiten wir eng mit den Pflanzenwissenschaften – z. B. der Universität Münster im Bereich der Pflanzenbiotechnologie oder der Hochschule Osnabrück im Bereich der Kultursystementwicklung – zusammen.
inFARMING® basiert auf insgesamt fünf Technologiefeldern. Welche sind das?
Volkmar Keuter: In den fünf Bereichen nutzen wir unter anderem die Möglichkeiten, die aus den Synergien von moderner pflanzlicher Produktion und Gebäude- oder Quartiersinfrastruktur entstehen. So können wir heute beispielsweise im Bereich der Nährstoffgewinnung einen NPK-Flüssigdünger (NPK: Stickstoff, Phosphor und Kalium) generieren, der überwiegend aus Recyclaten besteht. Dieser Weg hat Vorteile gegenüber aquaponischen Systemen, weil wir mehr Nährstoffe im Kreislauf halten können und auf aufwendige Beckenkonstruktionen für die Fischhaltung verzichten können.
In modernen Indoor-Farmen wird das für die Photosynthese notwendige Licht üblicherweise über LED-Systeme zugeführt. Bei diesen Belichtungssystemen gibt es noch viele wissenschaftliche Fragen, gerade was die Auswirkungen auf die Qualität angeht. Unter welchen Bedingungen ist das Wachstum besonders gut? Wann ist die Qualität am besten? Wann ist beispielsweise der Gehalt an sekundären Inhaltsstoffen am höchsten? Es wird erwartet, dass zukünftig die LED-Systeme noch effizienter werden und damit die Energiekosten der Indoor-Farmen sinken. Schon heute können sich diese aber durch innovative Steuerungsmöglichkeiten reduzieren lassen.
Im dritten Bereich arbeiten wir an neuen sensorischen Lösungen, um beispielsweise berührungslos und nicht destruktiv Qualität, Erntezeitpunkt oder Inhaltsstoffkonzentration von Pflanzen zu messen. Wir gehen davon aus, dass Automatisierungslösungen künftig eine noch größere Rolle in der Pflanzenkultivierung einnehmen werden.
Im vierten Entwicklungsfeld, Materialien für moderne Kultivierungsverfahren, forschen wir an neuen Eindecksystemen und funktionalisierten Materialien. Holger Wack verantwortet aktuell das Projekt Light-Light-Roof, in dem zusammen mit einem Industriepartner ein gewichtsoptimiertes Glas-Folie-Modulsystem als Eindeckmaterial entwickelt wird.
Im fünften Entwicklungsfeld beschäftigen wir uns derzeit systemisch mit dem Thema Energiekreisläufe. Hier haben wir durch den ALTMARKTgarten in Oberhausen ein einzigartiges Reallabor vor der Tür, in dem wir neue Systeme testen und evaluieren können.
Apropos ALTMARKTgarten: Was sind die bisher größten Meilensteine Ihrer Forschungsarbeit in diesem Bereich?
Volkmar Keuter: Mir liegen drei Meilensteine sehr am Herzen. Im Rahmen des Projekts SUSKULT ist es uns gelungen, einen NPK-Flüssigdünger zu generieren, mit dem wir hydroponisch Gemüse so ertragreich kultivieren können wie mit rein mineralischem Dünger. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir keine inhärenten Risiken zu befürchten haben. Das Verfahren werden wir in den kommenden zwei Jahren im Rahmen einer Pilotierung weiter evaluieren.
Für große Aufmerksamkeit hat der ALTMARKTgarten in Oberhausen gesorgt, bei dem unter der Projektleitung von Simone Krause erstmalig verschiedene technologische Entwicklungen in einem Reallabor zusammengefügt wurden. Auf 1000 m2 werden in unterschiedlichen Klimazonen Pflanzen kultiviert. Der ALTMARKTgarten ist ein Leuchtturmprojekt für die Stadtentwicklung und für das gesamte Thema der urbanen Landwirtschaft in Deutschland. Das Interesse an unserer Expertise auf diesem Gebiet ist sehr groß und gab bereits Anfragen aus weiteren Städten. Eine erste Machbarkeitsstudie für die Stadt Düsseldorf ist bereits abgeschlossen.
Als dritter Meilenstein ist sicherlich das nicht destruktive Messverfahren zu nennen. Hier haben wir im vergangenen Jahr entscheidende Fortschritte gemacht, sodass zukünftig der Erntezeitpunkt nicht mehr von der Größe eines Salatkopfs, sondern vom Vitamingehalt bestimmt wird.
Der Fokus Ihrer Forschungsaktivitäten liegt auf Deutschland. Wie sieht es international aus?
Volkmar Keuter: Das Potenzial von Indoor-Farmen außerhalb Deutschlands ist zum jetzigen Zeitpunkt deutlich größer und wird besonders im asiatischen Raum stärker genutzt. Vorreiter ist sicherlich Japan. Eine Indoor-Farm in Kyoto z. B. produziert am Tag gut 21 000 Salatköpfe auf einer Fläche von ca. 4 000 m2. Deutschland bzw. Europa spielen international gesehen noch eine eher kleine Rolle auf dem Gebiet. Das wollen wir ändern.
Wird dann die konventionelle Agrarwirtschaft in bestimmten Regionen an Bedeutung verlieren?
Volkmar Keuter: Man muss unterscheiden zwischen inFARMING® als Komplettlösung und den einzelnen Technologiebausteinen. Gerade die Bausteine können für die existierende gartenbauliche Produktion interessant sein und dort integriert werden. inFARMING® als Gesamtentwurf einer Pflanzenkultivierung am Ort des Bedarfs kann einen Einfluss auf die traditionelle Agrarwirtschaft haben. Ich sehe es aber nicht als Wettbewerb oder Konkurrenz, sondern als sinnvolle Ergänzung. Das Interesse an neuartigen Kultivierungssystemen steigt gerade bei Junglandwirt*innen, die über neue Geschäftsmodelle und Ansätze nachdenken und moderne Technologien oder Konzepte im Blick haben.
Unter anderem bei der Kultivierung von Heil- und Medizinalpflanzen beobachten unsere Industriepartner und wir, dass aufgrund schwankender Qualitäten und Erträge in den Herkunftsländern Produktionssysteme am Ort der Weiterverarbeitung, also in Deutschland, Sinn machen können. Mögliche Lieferkettenabhängigkeiten könnten so reduziert werden.
Was sind die nächsten Schritte für das Fraunhofer UMSICHT?
Volkmar Keuter: Mehrere Forschungsprojekte zur Weiterentwicklung in den Entwicklungsfeldern sind kürzlich gestartet, weitere sind in der Planung. Das Projekt SUSKULT läuft noch bis 2024, eine neue Förderphase von fünf Jahren für weiterführende Themen steht im Raum. Im Sommer soll eine Pilotanlage auf der Kläranlage Emschermündung in Betrieb genommen werden. Wir fügen dort erstmalig die einzelnen Technologiebausteine hochskaliert zusammen, die in den Laboren an unterschiedlichen Standorten in Deutschland und Österreich entwickelt worden sind. Auch die Machbarkeitsstudie in Düsseldorf wurde sehr positiv angenommen, sodass über eine Realisierung gesprochen wird.